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Was hat Tanzen mit komplexem Denken zu tun?

  • mathiskleinschnitt
  • 29. Sept.
  • 5 Min. Lesezeit

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Zunächst möchte ich kurz die Perspektiven klären, aus denen ich auf "Tanz" und "Komplexität: schaue: Ich werde den 'Zeitgenössischen Bühnentanz in Deutschland' betrachten - aus dem schlichten Grund, dass ich mehr als 20 Jahre Erfahrung als aktiver Zeitgenössischer Tänzer und Choreograf darin habe. Zu "Komplexität" möchte ich eine kurze Abgrenzung von "komplex" zu "kompliziert" vornehmen, das hilft zum Verständnis, worüber ich rede. Dabei baue ich auf Gedanken der brillanten Gitta Peyn[1] auf:

'Kompliziert' meint vielschichtig, aber strukturell verstehbar und steuerbar durch eine differenzierende Analyse - sprich: Durchdringbar, in dem es in Teile zerlegt und strukturiert wird. "Komplex" meint tiefgreifend vielschichtig, dynamisch und in Bewegung – zum Durchdringen ist hier erforderlich: Differenzierende Analyse + Perspektivwechsel + die Fähigkeit, diese schnell zu vollziehen (schnelle Wechsel im Denken-Handeln).

Was hat Tanzen mit komplexem Denken zu tun? Jetzt würde viele vielleicht erstmal sagen: Naja, Tanzen ist doch an sich jetzt nicht so komplex. Klar, das ist irgendwie schwer, da muss man trainieren, da muss frau fit sein, da muss sich mensch irgendwie die Schritte einprägen und so. Aber ansonsten würden vermutlich viele davon ausgehen, dass es irgendwie so eine Tätigkeit ist, die frau dann mit dem Körper macht, da muss man doch jetzt nicht komplex denken. Für mich hat das aber doch viel mit komplexem Denken zu tun, denn in meiner über 20-jährigen Bühnenkarriere als zeitgenössischer Bühnentänzer ist mir (eigentlich erst im Nachhinein) aufgefallen, wie viele Dinge wir gleichzeitig denken und tun (müssen) - während wir auf der Bühne agieren und tanzen. Und das nach einer langen Vorbereitung. Wir beginnen über Wochen, Material zu kreieren, auszuprobieren, festzulegen, dann einzustudieren, sodass der Körper vieles davon automatisiert auf der Bühne tun kann. Trotzdem müssen wir sehr viele Kanäle parallel im Hirn aktiv halten, wenn wir auf der Bühne sind: Denn Tanzen ist ja live, geschieht in dem Moment, in dem es dann auch schon wieder vorbei ist. So reihen sich unzählbare Bewegungsabläufe aneinander. Ich muss mich also auf jede einzelne Bewegung konzentrieren, welche in der gedachten Reihenfolge als nächstes kommt, auch wenn mein Körper und mein Unbewusstes dabei kräftig mithelfen, was sonst auch gar nicht möglich wäre. Es gibt Dinge, die fallen uns sehr leicht mit dem eigenen Körper und die können wir so ausführen, dass sie so aussehen, wie sie aussehen sollen. Also so aussehen, wie es von der/dem Choreograf:in gewünscht ist oder von mir selbst. Beispiel: Damit der Arm auch tatsächlich lang ist (mit einer Verlängerung bis in die Finger hinein). Und es gibt andere Sachen, die fallen manchen Profitänzer:innen leicht, andern weniger. Ich kann vielleicht z.B. zwar meinen Arm strecken, aber vielleicht habe ich nicht so eine gute Kontrolle oder Verbindung zu meiner linken Hand am Ende des Arms und muss da sozusagen jedes Mal, wenn ich diesen linken Arm strecke – auf der Bühne, während ich die Choreografie tanze, nochmal gedanklich verstärken - aktiv daran denken, damit die Hand auch tatsächlich verlängert ist, damit der gewünschte visuelle Effekt entsteht. D.h. ich muss während der kompletten Choreografie oder auch wenn ich improvisiere, immer wieder daran denken, antizipatorisch für bestimmte Momente aktiv bewusst daran denken: „Jetzt muss ich an meine Finger denken, dass diese auch verlängert sind“. Das ist ein Aspekt der Dinge, welche ich parallel und komplex „denken“ und „machen“ muss. Ein anderer Teil ist z.B., dass ich mich nicht komplett darauf verlassen kann, dass mein Körper das einfach alles immer so abspult. Es gibt so viele Kleinigkeiten, an die ich denken muss. Es gibt bestimmte Verabredungen, wir nennen das Cues, also Verabredungen auf ganz bestimmte Punkte/ Momente in der Musik, wo bestimmte Veränderungen in der Choreografie stattfinden sollen (manchmal individuell - der Cue gilt nur 1 Person, manchmal für mehrere oder gar alle Tanzenden). D.h., ich muss aktiv auf die Musik hören, während ich mich bewege, damit ich die entsprechenden Cues nicht verpasse. Es gibt auch noch andere Cues: Auf dem Tanzboden: Markierungen auf dem Boden, um beabsichtigte Positionen im Raum zu markieren, wo ich in bestimmten Momenten in der Choreografie zu sein habe, damit das Bild von außen stimmt, natürlich möglichst im Moment des entsprechenden musikalischen Cues. Gleichzeitig muss ich meine Mittanzenden, wenn es eine Gruppenchoreografie ist, im Auge behalten, damit die Formation oder die Abstände stimmen, die wir verabredet haben, damit das ästhetische Bild so entsteht, wie wir das uns wünschen, aber auch, um uns nicht gegenseitig zu gefährden. Ein weiterer Aspekt ist, dass immer Fehler passieren (können). Wir sind Menschen. Entweder ich bin nicht aufmerksam genug oder mein Körper hat gerade einen Schwächemoment oder ich vergesse irgendwas – oder eine der beteiligten Personen auf der Bühne um mich herum. Das kann gefährlich werden, wenn wir Dinge entwickeln, wo wir zu zweit, dritt oder mehr agieren. Und da sind körperliche Handlungen und Bewegungsmuster dabei, bei denen wir uns gegenseitig unterstützen oder gar heben oder fangen oder werfen oder rollen u.s.w. Und das ist i.d.R. alles so ausgetüftelt, dass es genauso ineinandergreift und ineinander passt, dass ich z.B. gerade falle und sofort wegdrehe, weil ich weiß, die nächste fällt genau auf denselben Punkt, wo ich gerade gefallen war. Oder es gibt Hebungen. Oder Würfe. Wenn eine:r in dem Gefüge, und das ist menschlich, einen Fehler macht, muss ich sehr aktiv anwesend sein, um darauf reagieren zu können, damit keine schwerwiegenden Folgen, respektive Verletzungen, entstehen. Noch eine weitere Ebene ist: Selbst, wenn wir alles trainiert haben, muss ich mir immer wieder bewusst sein: Wo sind gerade die Zuschauenden. Wir bewegen uns ja 360°. Ich gehe jetzt von einem Live-Bühnenmoment aus. Und wenn ich dort mich mal eine ¾-Drehung drehe statt einer ganzen Drehung, aus welchem Grund auch immer, muss ich sofort wieder adaptieren können und mir bewusstwerden, wo sind gerade die Zuschauenden und wie muss ich mich repositionieren, damit das, was ich tue, auch von den Zuschauenden so gesehen werden kann, wie ich mir das wünsche oder darüber hinaus: Wie es zu meinen Mittanzenden Sinn ergibt. Je nach Tanzform kommen noch weitere Aspekte hinzu. Es gibt beispielsweise Formate, da sind die Zuschauenden 360° um die Bühnenfläche positioniert. Da muss ich als Tänzer:in konstant klar haben, wie herum muss ich gerade gedreht sein, damit es so ist, wie wir es verabredet haben. Es gibt Improvisationsmomente, in denen ich sehr hellwach im Moment sein können muss: Was ist gerade mit den Mittanzenden, wie reagiert gerade das Publikum, je nachdem worum es in der Improvisation gehen soll - muss ich sehr präsent sein: Mit meinem Körper, der Wirkung meines Körpers, mit der Position meines Körpers, der Position und den Bewegungen der Mittanzenden, mit dem Raum und wie ich mich darin in Bezug auf die Mittanzenden positioniere/bewege, mit dem Licht, mit der Musik, mit dem Publikum. Und alle diese Ebenen muss ich alle flexibel jonglieren und in Verbindung bringen können, da sind sehr viel bewusstes komplexes Denken, unbewusstes komplexes Denken, komplexe kinästhetische Prozesse usw. am rattern, um diese Ebenen in Millisekunden verknüpfen zu können, damit die Bodenmarkierungen, der eventuelle Unfall, meine Körperpositionierung zum Publikum, die gestreckten Finger, etc. in Windeseile verknüpft werden im Hirn und mit dem Körper. Sonst hat eben ein Fehler, der zu einem Unfall führt, eventuell ganz schwerwiegende Folgen. Oder wir tanzen im Bühnenteil, wo gerade keine Beleuchtung ist und es ist dann von niemandem zu sehen. Insofern findet auch beim Tanzen – in meiner Perspektive des zeitgenössischen Bühnentanzes – gehörig viel komplexes Denken statt. Ich kann es auch auf viele andere Tanzformen übertragen, da sind dann nochmal die einzelnen Ebenen und Kontexte anders, jedoch gelten hier ganz ähnliche Dinge.

 


[1] Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Konzepten empfiehlt sich die Lektüre des Artikels „Komplexitätsmanagement – Modell/Stufen/FORMen“ von Gitta Peyn. Dieser Artikel ist Teil der Artikelserie „Im Gleichschritt Marsch“ und bietet einen praxisnahen Einstieg in die Thematik. Für eine umfassende Einführung in FORMWELT und die zugrunde liegenden Konzepte empfiehlt sich das Buch „uFORM iFORM“ von Ralf Peyn, mit einer Einführung von Gitta Peyn. Dieses Buch bietet einen tiefen Einblick in die systemischen und formallogischen Grundlagen von FORMWELT und deren Anwendung.

 
 
 

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